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„Komm, Luna, es geht los.“

Alex saß auf ihrem Schneemobil vor Zachs Haus und wartete darauf, dass Luna sich vor ihr auf den Schlitten hockte. Nach Kades wiederholten Anrufen hatte sie ihr Handy ausgeschaltet und eingesteckt. Danach saß sie eine Weile nur in der Dunkelheit im Schneegestöber und zwang sich dazu, einfach nur ein- und auszuatmen.

Sie konnte nicht mehr mit ihm reden. Jedenfalls jetzt nicht. Ihr Herz war schwach, und obwohl sie ihm gesagt hatte, dass er sich von ihr fernhalten sollte, wünschte sich ein Teil von ihr, ihn wieder zurückkommen zu lassen, auch wenn alles um sie in Aufruhr war. Vielleicht sehnte sie sich gerade deswegen so nach Kades tröstlicher Stärke.

Und nach seiner Liebe. Immer noch.

Aber sie wusste nicht, ob sie ihren Gefühlen im Moment noch trauen konnte.

Nichts war mehr klar. Seit sie Kade begegnet war, war es vorbei mit ihrer bequemen Welt aus Schwarz oder Weiß, Gut oder Böse. Er hatte alles verändert, ihr die Augen geöffnet, und sie würde nie mehr zu ihrem früheren Leben zurückkehren können.

Sie hatte sich für immer verändert - vor allem, weil sich ihr Herz, sosehr sie ihn auch fürchten oder hassen wollte für das, was er war, weigerte, ihn gehen zu lassen.

Alex ließ ihr Schneemobil an. Sie musste einfach weg von allem, brauchte Raum zum Denken, damit sie wieder einen klaren Kopf bekam. Was sie jetzt benötigte, war ein sicherer

Hafen, und im Moment fiel ihr dafür nur ein einziger Ort ein - Jennas Hütte.

So turbulent, wie die letzten Stunden gewesen waren, hatte sie völlig vergessen, dass sie eigentlich bei ihrer Freundin vorbeischauen wollte. Wenn es einen Menschen gab, dem sie jetzt trauen konnte, war es Jenna.

Hinter ihr fiel krachend Zachs Haustür zu.

„Hey, wo willst du denn hin?“, rief er ihr zu und kam zügig über den Hof auf sie zu. „Ich hab doch gesagt, dass ich dich heimfahre, um sicherzugehen, dass du heil ankommst. Du bist kaum in der Verfassung, zu ...“

„Ich will deine Hilfe nicht, Zach.“ Alex warf ihm einen harten Blick zu, angewidert bei dem Gedanken, dass sie ihn je für einen Freund gehalten hatte.

Noch schlimmer, dass sie je mit ihm geschlafen hatte. Wenn Kade gefährlich war, weil Stammesblut in seinen Adern floss, dann war Zach eine noch viel heimtückischere Gefahr. Denn er war jemand, der skrupellos unschuldige Menschen ausnutzte, sie verdarb und ihr Leben zerstörte, um sich zu bereichern.

„Wie viel Geld haben Skeeter und du die Jahre über gemacht? Wie viel Wert haben die Menschen für dich, die du zu schützen geschworen hast, wenn du sie dermaßen verrätst?“

Zach starrte sie wütend an. „Du weißt nicht, was du redest, Alex. Du hast Wahnvorstellungen.“

„Ach ja?“

„Ja, allerdings.“ Er trat näher. „Ich fürchte, du bist eine Gefahr für dich selbst.“

„Wohl eher für deinen Lebensunterhalt, was?“

Er kicherte freudlos. „Als Gesetzesvertreter kann ich dich in diesem Zustand nicht guten Gewissens aus meinem Gewahrsam entlassen, Alex. Steig vom Schlitten.“

Sie schüttelte den Kopf und gab ein wenig Gas. „Fick dich!“

Bevor sie losfahren konnte, schloss sich Zachs Hand um ihr Handgelenk. Er riss an ihrem Arm und brachte sie fast aus dem Gleichgewicht.

Alex blickte nach unten und sah entsetzt, dass er seine Pistole aus dem Gürtelholster gezogen hatte.

Fassungslos keuchte sie auf, und im selben Augenblick schwang Luna ihren großen Kopf herum und schlug Zach die Zähne in den Arm.

Zach brüllte auf. Sein schmerzhafter Griff löste sich, und Alex schlang einen Arm um ihre geliebte Luna, um sie sicher vor sich auf dem Schlitten festzuhalten. Dann gab sie Gas, und das Schneemobil stob mit einem Satz davon.

Sie raste durch das wirbelnde Schneegestöber und wagte nicht zurückzuschauen.

Nicht einmal, als sie Zach ihren Namen rufen hörte, gefolgt vom Aufheulen eines weiteren Schneemobils, das ihr nachsetzte.

 

Die Frau lag bäuchlings auf dem Fußboden der Blockhütte, reglos bis auf das entspannte Auf und Ab ihres Atems.

Sie war in Trance und spürte den kleinen Einschnitt nicht, den er vor Kurzem in ihrem Nacken gemacht hatte.

Aus diesem sorgfältig platzierten Schnitt sickerte nun ein dünner Blutstrom, als er sich neben sie kauerte und die Wundränder in ihrer zarten menschlichen Haut zusammendrückte. Er beugte sich über sie und leckte das kupferrote Rinnsal auf, dann presste er seine Zunge gegen die Wunde und versiegelte so das Gewebe.

Auch seinem eigenen Körper ging es besser. Die UV-Verbrennungen waren abgekühlt, die Blasen auf seiner Haut nässten und schmerzten nicht mehr so.

Auch die Schusswunden an Oberschenkel und Bauch hatten sich durch neues, regeneriertes Gewebe wieder geschlossen. Und der Durst, der seit seiner Flucht aus der Gefangenschaft sein fiebernder Begleiter gewesen war, hatte nachgelassen.

Nun, da sein Kopf wieder klar war, hatte er Gelegenheit, sich zu besinnen und zu überlegen, was er tun sollte.

Weiterfliehen. Sich weiter verstecken und versuchen, der Nachkommenschaft, die ihn entweder einfangen oder vernichten wollte, immer einen Schritt voraus zu sein. Dieselbe Existenz weiterführen wie bisher, seit seine Brüder und er den ersten Schritt in diese unwirtliche Menschenwelt gesetzt hatten.

Er würde überleben.

Aber zu welchem Zweck?

Während sein Instinkt ihm sagte, dass er weit davon entfernt war, bezwungen zu werden, rechnete ihm sein Verstand vor, dass er keinesfalls immer gewinnen konnte. Es war kein Ende in Sicht. Ihn erwartete immer nur das ewig Gleiche.

Er und die anderen sieben Eroberer, die hier vor so langer Zeit gestrandet waren, hätten die Könige dieser minderwertigen menschlichen Lebensform sein sollen. Und das wären sie auch heute, wenn ihre halb menschlichen Söhne sich nicht gegen sie erhoben hätten. Wenn es diesen Krieg nicht gegeben hätte, den er als Einziger überlebt hatte - dank seines Sohnes, der den Orden verraten und ihn heimlich in einer Berghöhle versteckt hatte.

Es hätte ihn nicht überraschen sollen, dass auch ihn Verrat erwartete, sobald er aufgewacht war.

Nach seiner Überwinterungsphase hatte er erwartet, dass die Welt sich verändert hätte und wie eine Belohnung vor ihm läge, um sich an ihr gütlich zu tun. Stattdessen war er gefesselt und ausgehungert gewesen, geschwächt durch Chemikalien und eine Technologie, die er dieser primitiven Menschheit, wie er sie zuletzt erlebt hatte, gar nicht zugetraut hätte.

Inzwischen hatte sich die Erde weiterentwickelt. Sie hatte nicht mehr viel mit der Welt zu tun, die er zurückgelassen hatte, aber das Leben hier blieb für ihn eine ewige Strapaze. Eine endlose Monotonie von Tagen und Nächten, Verfolgung und Zuflucht.

Er war nicht sicher, ob er dafür noch den Willen oder auch nur das Verlangen aufbringen konnte.

Die Frau, die vor ihm lag, steckte in einer ähnlichen Falle. Er hatte ihre Verzweiflung mit angesehen und in jedem ihrer Pulsschläge geschmeckt, als er von ihr getrunken hatte. Sie hatte mit dem Leben abgeschlossen. Er schmeckte ihre Einsamkeit, ihre Hoffnungslosigkeit, und sie rührten an etwas tief in seinem Inneren.

Auch sie war eine Kriegerin. Er sah es an den kleinen gerahmten Bildern, die in ihrer Wohnung verstreut waren. Diese Frau trug die Uniform einer Menschenkriegerin, sie trug Waffen, und in ihrem Blick lag Entschlossenheit.

Dieser Blick war nicht verschwunden, nicht einmal, nachdem Blutverlust und Angst sie geschwächt hatten. Sie war immer noch stark, in ihrem Herzen immer noch eine Kriegerin, aber sie selbst konnte das nicht mehr erkennen.

Auch sie war verloren ... allein.

Doch während sie hatte aufgeben wollen, bevor er ihre Pläne störte, erlaubte ihm sein weiterentwickeltes Erbgut eine solche Kapitulation nicht. Er war als Eroberer geboren, für den Krieg. Er war das ultimative Raubtier. Ob er wollte oder nicht, sein Körper würde dem Tod bis zum letzten Atemzug Widerstand leisten ... egal, wie lange das dauern würde.

Außerdem trieb ihn noch der Wunsch an, seine Feinde geschlagen zu sehen, mit welchen Mitteln auch immer.

Das hatte ihn vor ein paar Minuten zu den Maßnahmen an dieser Frau gezwungen, die bewusstlos und völlig nichts ahnend auf dem Fußboden der Hütte lag.

Jetzt rückte er mit grimmigen Gedanken von ihr ab. Träge hob er den linken Unterarm zum Mund und versiegelte den kleinen Schnitt, den er sich dort beigebracht hatte. Seine Zunge strich über die schwache Einkerbung im Muskel unter seiner Haut, und die Wunde schloss sich und verschwand, als habe es den Einschnitt nie gegeben.

Als er aufstand und auf die andere Seite des Raumes ging, hörte er unweit der Hütte das Dröhnen von Benzinmotoren, die sich näherten.

Hatten sie ihn so schnell gefunden?

Ob seine Verfolger Menschen oder Stammesvampire waren, konnte er nicht sagen.

Aber als er die regenerierten Sehnen und die Haut seiner Arme prüfte, lächelte er mit grimmiger Zufriedenheit. Er war auf jede neue Bedrohung vorbereitet.

Lara Adrian- 07- Gezeichnete des Schicksals
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